Blumenwiese
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Timo Krüger

Auf der anderen Seite

Bestatter gelten als Experten im Umgang mit Tod und Trauer. Sie kümmern sich um alle organisatorischen Dinge, geben Ratschläge und sind auch ein Stück weit Begleiter der Angehörigen in der schwierigsten Phase ihres Lebens. Doch vom Umfeld der Familie und Freunde bekommen sie häufig nicht so viel mit. Dies ändert sich schlagartig, wenn sie selbst betroffen sind, wenn sie plötzlich auf der anderen Seite stehen. Selbst Angehöriger oder Freund sind. Wenn sie selbst von Trauer betroffen sind. Was bringt ihnen dann ihr Wissen um den Tod und alles drumherum? Trauern sie anders? Hier erzählt Timo Krüger von seinen Erfahrungen.

Was berührt, das bleibt.

Es war ein Freitagmorgen im November 2017, als der Anruf kam. Nils war dran. „Lena ist tot“. Ich bin Bestatter. Ich bekomme jeden Tag Anrufe von Angehörigen, die mir mitteilen, dass jemand verstorben ist. Ich weiß, was dann zu tun ist. „War der Arzt schon da?“ „Möchten Sie, dass wir sofort vorbeikommen, um die Überführung durchzuführen?“ „Wir benötigen folgende Papiere von Ihnen:“ 

Doch diesmal war alles anders. Lena war meine beste Freundin. Über ein Jahr kämpfte sie gegen die Leukämie. Zwei Jahre, in denen sie und ihr Mann Nils Untragbares zu tragen hatten. Zwei Jahre, in denen sie aus allen Wolken fielen und trotzdem immer wieder aufstanden. 

Zwei Jahre voller unglaublich schwerer Zeiten und gleichzeitig voller unglaublicher Leichtigkeit, Liebe und Hoffnung.  Lena war der positivste Mensch, den ich kannte. Lena suchte – und fand – immer in allem einen Sinn. Lena war davon überzeugt, dass jeder Mensch auf Erden eine Aufgabe zu erfüllen hätte, bevor er geht.

Ihre noch junge Beziehung zu Nils hätte an der Krankheit zerbrechen können. Stattdessen schöpften beide Kraft daraus. Heirateten sogar. Man kann sich vorstellen, dass es einfach eine superemotionale und tolle Hochzeit für die Beiden und alle Beteiligten war.
Und jetzt, nur ein paar Monate später, der Anruf von Nils. Wir hatten erst vor ein paar Wochen telefoniert, als klar wurde, dass Lena den Kampf am Ende verlieren könnte. Er rief für Lena an und fragte mich irgendwas Rechtliches zur Bestattung. Die beiden gingen auch dieses Thema offensiv und nach vorne gerichtet an. Lena kämpfte bis ganz zuletzt. Bis klar war, dass es für sie keine Hoffnung mehr gab. Danach… akzeptierte sie die neue Situation und machte das Allerbeste daraus, wie sie es immer tat. Sie sorgte dafür, dass sie zuhause, im Kreise ihrer Familie, sterben konnte. Sie diktierte ihrer Mutter Abschiedsbriefe an ihre Familie und an ihre engsten Freunde. Sie besprach mit Nils, wie sie sich ihren Abschied wünschte. Und sie fragte mich, ob ich mich um die Bestattung kümmern könnte. Natürlich könnte ich. Mehr noch, ich wollte es auch unbedingt. Es ist mein Beruf. Trotzdem möchte ich keine Familienmitglieder und Freunde bestatten. Weil ich möchte, dass es ihnen gut geht. Aber ich weiß auch, dass wir alle irgendwann und irgendwie von dieser Welt gehen. 

Und dann ist das Einzige, was ich noch tun kann, einen guten Abschied zu gestalten. Ich kann die wirklich allerletzten Wünsche erfüllen. Darum wollte ich es unbedingt. Um Lena den Abschied zu ermöglichen, den sie sich gewünscht hat.

Und nun war es also soweit. Nils rief an. Ich war selbst betroffen. Musste aber meinen Job weitermachen und mich um alles kümmern, was nun eben mal zu tun ist. Lena war in Osnabrück bei ihren Eltern verstorben. Also musste ich mich um die Überführung kümmern. 

In dem Moment zahlte es sich mal wieder aus, tolle Kollegen zu haben. Zwei meiner Kolleginnen fuhren ohne zu zögern los nach Osnabrück, um Lena abzuholen. Ich wollte dann später nachkommen, hatte vorher noch eine Rede bei einer anderen Beisetzung zu halten. Der Arbeitstag verging für mich wie in einem Nebel. Bevor wir Lena abholten, zogen Nils und ihre Mutter ihr ihre Kleidung an, die sie sich selbst ausgesucht hatte. Sie wuschen sie und cremten sie ein. Am Vormittag kamen dann noch alle Freunde und Nachbarn zu ihr nach Hause, um sich von Lena zu verabschieden. Ich kam Freitag Abend bei ihren Eltern an. Da war sie schon von zu Hause abgeholt worden. Es war seltsam für mich, sie nicht noch einmal dort gesehen zu haben. Aber momentan wohl das Beste. Ich weiß nicht, ob ich es in diesem Moment verkraftet hätte.

Normalerweise komme ich zu Angehörigen und berate sie zu allen Fragen der Bestattung. Jedes Gespräch ist anders, nichtsdestotrotz sind im Grunde immer dieselben Fragen zu klären. Ich versuche, möglichst viel davon anzusprechen, damit wir dann auch anfangen können, die Wünsche der Familie umzusetzen. Manchmal geht das nicht auf einmal. Dann komme ich noch einmal mal wieder. Wenn es nötig ist, auch zwei-, drei-, oder viermal.

Bei Lenas Eltern merkte ich das erste Mal, wie schwierig es in dieser Situation ist, irgendwelche Entscheidungen zu treffen. Zum einen, weil unglaublich viel entschieden werden muss. Zum anderen aber auch, weil jede Entscheidung etwas Endgültiges hat. Welche Bestattungsart? Wann soll die Trauerfeier sein? Und so weiter. Jede Antwort macht dir bewusst, dass du nichts zurückdrehen und revidieren kannst. 

Dass du nun Entscheidungen treffen musst, die du nie treffen wolltest. Dass der Tod uns nicht fragt, ob er uns gerade in den Kram passt. Ich blieb das ganze Wochenende. Wir klärten ein paar Fragen, entschieden ein paar Dinge, schweiften ab in Anekdoten und Erinnerungen, gingen spazieren, lachten, weinten.

Am Montag ging es dann los mit den Formalitäten. Das Standesamt hatte geöffnet, die Friedhofsverwaltung war erreichbar. Ich musste mich um die Sterbeurkunden kümmern, einen Ort und einen Termin für die Trauerfeier finden. 

Dabei wurde mir bewusst, wie sperrig unsere Bestattungsgesetze teilweise sind. Das wusste ich zwar auch schon vorher, wurde mir als Betroffenen aber nochmals viel deutlicher. Fristen mussten eingehalten werden, was die Terminfindung für die Trauerfeier nicht einfacher machte. Außerdem kam die Bestattungspflicht für Urnen zum Zuge, die Familie hätte sich hier gerne mehr Freiheiten gewünscht.

Montagabend fuhr ich schließlich zurück nach Hamburg, um mich um die Trauerkarten zu kümmern. Die Trauerfeier fand eine Woche später an einem Montag in Osnabrück statt.
Zu diesem Termin fuhr ich mit meinen Kolleginnen wieder nach Osnabrück. Die Trauerfeier selbst war für mich keine Gelegenheit, Abschied zu nehmen. Ich funktionierte an diesem Tag einfach. Denn ich musste mich ja darum kümmern, dass nichts schief läuft.

Heute denke ich jeden Tag an Lena. In unzähligen Situationen, bei bestimmten Liedern. Oft frage ich mich, was sie mir wohl geraten hätte. Lena war nämlich eine unschätzbare Ratgeberin. Sie half immer, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen. Sie hatte die Gabe, scheinbar komplizierte Sachverhalte genau auf den Punkt zu bringen, in einen Satz zu komprimieren, den man so auch in jedes Poesiealbum hätte schreiben können. Immer an der Grenze zum Kitsch, aber doch immer auch so wahrhaft. Das fehlt mir heute. 

Wenn ich an die Zeit ihrer Krankheit und an ihren Tod zurückdenke, so mache ich das heute in Frieden. Lena hat nichts unausgesprochen zurückgelassen. Lena hat ihre wenigen Tage auf der Erde mit unglaublich viel Leben gefüllt.

Lena hat ihren Frieden mit ihrem Schicksal gemacht und dafür gesorgt, dass es auch ihre Familie und Freunde tun können. Außerdem hat es mir dabei geholfen, meinen Beruf besser zu machen. Ich weiß heute wirklich selbst, was es bedeutet, einen so wichtigen Menschen für immer zu verlieren. Und wie wichtig ein guter Abschied ist. Und das Leben, welches wir vorher leben. Wie wir es leben. Worauf es ankommt. Was wichtig ist.

Der Musiker Enno Bunger, in dessen Band Lenas Mann Schlagzeuger ist, hat diese Zeit in seinem neuen Album verarbeitet. Der Titel lautet „Was berührt, das bleibt“. Treffender hätte Lena es nicht selbst sagen können. Lena hat berührt. Mich und alle, die sie kannten. Und darum ist sie nie fort. Solange wir noch da sind, bleibt sie bei uns.